Figürliches, 1990/1999

Ich habe keine Neigung zur Perfektion. Unzulänglichkeiten inspirieren mich„, sagt Reinhard Lange, „vor, während und nach dem Malvorgang, und das wertlose Material, auf dem ich male, hilft, Hemmungen verschiedenster Art zu überwinden. Ich habe das Gefühl, daß die noch nassen Arbeiten über Nacht reifen – auch noch im Rahmen.„ Reinhard Lange liebt Gegensätze und Widersprüche in Formen und Farben, zwischen zu neuem Wert gelangtem Bildgrund und dem verlorenen Glanz alter Bilderrahmen, die er auf Flohmärkten und in Antiquitätengeschäften kauft: Er hält die Gegensätze und Widersprüche seines Lebens in künstlerischen Bildern fest, und Vergangenes und Gegenwärtiges vermischen sich zu einem neuen Kosmos von Empfindungen, Eindrücken und Assoziationsmöglichkeiten. Reinhard Lange will keine harmlosen Bilder malen, er will stören, sich selbst und den Betrachter zum Nachdenken anregen und Assoziationen ermöglichen. Reinhard Lange macht keine gefällige oder gar dekorative Kunst. Es ist für viele nicht einmal leicht, mit seinen Bildlandschaften zurechtzukommen. Es fehlt ihnen die harmonisierende Vorsicht, die glättende Ästhetik, und insofern ist Reinhard Lange radikal: radikal im Umgang mit sich, seinem Leben und seiner Kunst, denn seine Bilder haben Lebenskonstellationen zum Thema, und sie leben aus der Geste, mit der sie geschaffen wurden, ihr Inhalt ist ihr Gestaltungsprozeß, in dem die Suche nach Bedeutung Spannung erzeugt und Freude macht – und umgekehrt die Sicherheit der Farbgestaltung den etwa erkennbaren Inhalt unbedeutend macht. Da ist nichts arrangiert und offenkundig, da ist vieles im Abstrakten belassen, im Aktionsfluß ungegenständlicher Übersetzung. Es gibt Menschen, die sagen beim ersten Blick auf ein Lange-Bild: „Das ist ja noch gar nicht fertig!„ Aber sie sind abgeschlossen, weil sie auf diese ruppige Art für den Künstler wie den Betrachter weiterdenkbar sind und alle Probleme, auch die unmittelbarsten, einschließen, was viele der heute aktuellsten Kunstformen in ihrer übergroßen Deutlichkeit nicht erreichen. „Malen ist Existenzempfindung„ hat Doris Schmidt 1984 in der Süddeutschen Zeitung in einem Artikel über den informellen Maler Fred Thieler geschrieben. Das trifft heute, in einer ganz neuen, anderen Bedeutung, viel eher auf die Arbeit des ehemaligen Meisterschülers von Fred Thieler zu, denn Reinhard Lange schafft mit seiner existentiellen Malerei neue Seh-Erlebnisse mit einer Vielzahl von persönlichen Entdeckungen.
Andreas Beaugrand