begegnet 10, 1999

Balanceakt des Auges

Der Sinn eines Werkes beruht auf der möglichen Mitarbeit des Betrachters„, hat Antoni Tapies einmal gesagt. „Wer ohne innere Bilder lebt, ohne Imagination und ohne Sensibilität, die man braucht, um im eigenen Innern Gedanken zu assoziieren, wird gar nichts sehen.„ (Praxis der Kunst, St. Gallen 1976, S. 34) Der Betrachter wird hier als Erfinder des Sinngehalts eines Bildes konstituiert. Das ist besonders dann der Fall, wenn der Künstler sich weder der idealisierenden Überhöhung noch der sezierenden Offenbarung von Realität verschreibt, sondern allein der Bildsprache seiner inneren Erlebnisvorstellung. Pierre Soulages hat diese Formerfindung wie folgt beschrieben: „Wenn ich male, folge ich keiner Ikone; Formen, Farben, Material und ihre Synthese stehen jenseits der Sprache, lassen sich nicht ausdrücken. (…) Ich arbeite unter der Lenkung eines inneren Impulses, eines Verlangens nach bestimmten Formen und Farben, nach einem bestimmten Material, und erst wenn ich sie auf die Leinwand übertragen habe, geben sie mir Aufschluß über das, was ich will. Beim Hervorbringen wird mir klar, wonach ich strebe, erst beim Malen erfahre ich, was ich suche.„ (Pierre Soulages, zitiert nach: Werner Hofmann, Die Grundlagen der modernen Kunst, Stuttgart 1987, S. 480 f.) Hans Sieverdings Arbeiten leben von der Spannung eines solchen Dialoges; sie behaupten die Formerfindung emphatisch als Korrelat der Innenschau, zugleich suchen sie die antwortende Nähe des Betrachters.

Gerda Breuer, in: Hans Sieverding. Arbeiten 1992–1994, Aarwangen (CH) 1994, S.5.