Ohne Titel,1999

Es hat mit der Kunst eine merkwürdige Bewandtnis.
In einer auf Nutzen und Gewinn eingestellten Zeit ist sie unnütz. Man kann mit ihr nichts anstellen, kann sie nicht gebrauchen, wie die zahlreichen Dinge unserer Umwelt, auf die wir zurückgreifen, wenn wir etwas ausführen wollen, vom Messer, mit dem wir schneiden, bis zum Flugzeug, mit dem wir uns fortbewegen, den Kleidern, die wir anziehen, dem Photoapparat, mit dem wir Aufnahmen machen, und dem Geld, das wir ausgeben, um so etwas zu erwerben. Mit dem Kunstwerk können wir nichts anfangen und verrichten. Warum verzichten wir dann nicht einfach auf Kunst? Weil wir das sonderbarerweise nicht können, ohne unser Leben entscheidend zu verarmen. Ist das nicht ein Zeichen, daß die konsequent auf Nutzen eingestellte Mentalität der menschlichen Existenz nicht gerecht wird, nicht gerecht werden kann?
In der Kunst geschieht eine Deutung der Welt und eine Deutung des menschlichen Verhaltens in der Welt. Es ist eine Illusion zu meinen, Welt sei einfach die Summe der vorliegenden Dinge. Welt ist vielmehr immer der verstandene Zusammenhang des Seienden, dem ein bestimmter Entwurf zugrunde liegt. Welt ist immer gedeutete Welt. Versagt beim Menschen die Fähigkeit der Deutung, so wird seine Welt sinnlos. Die heute so oft gehörte Klage über die Sinnlosigkeit der Welt fällt auf den Klagenden zurück, der nicht mehr fähig ist, Sinn zu stiften. Im menschlichen Tun und Handeln zeigt sich, ob der Mensch im Stande ist, Sinn zu stiften. In der Kunst geschieht eine hervorragende Weise des Sinnstiftens. Die Kunst ist nur von der Sinnstiftung her als Kunst zu verstehen. Die Zeiten sind vorbei, da die Kunst als überflüssiges Mittel der Zerstreuung und Entspannung angesehen wurde, als eine Art „Ausschmückung„ des Lebens, auf die man gerade auch verzichten kann, wenn es ernst wird. Das Umgekehrte ist der Fall. Wenn es ernst wird, bedürfen wir der Kunst, um zu verstehen, wie es mit unserer Existenz bestellt ist, in was für einer Welt wir wirklich leben.
Die wirtschaftlichen Überlegungen dominieren bei der Beurteilung des menschlichen Tuns. Wie es dem Menschen in dieser Einstellung ergeht, fällt nicht ins Gewicht, es sei denn durch die auffallend hohe Zahl von psychischen Erkrankungen, die zu einer Belastung des Haushaltes werden. Sie sind aber ein Zeichen, daß die Menschen es in dieser Welt nicht aushalten, dieses Leben nicht ertragen. Was hat das alles mit Kunst zu tun? Sehr viel, wenn die Kunst eine Stätte ist, in der wir erfahren, wie es um den Menschen und seine Welt bestellt ist, ob ihm seine Welt die Stätte der Vertrautheit ist oder die Stätte der Bedrohung.
Es ist heute dringender denn je nötig, auf das Tun der Künstler einzugehen, um zu erfahren, welche Möglichkeiten der menschlichen Existenz gerade durch die Kunst eröffnet werden. Aber es ist nicht leicht zu sehen, was in der Kunst geschieht. Warum nicht? Weil wir verlernt haben zu sehen und zugleich nicht wissen, daß wir nicht sehen können — wir leiden unter der verblendeten Blindheit.„

Ausschnitte aus: Walter Biemel, Die Stimmkraft der offenen Bilder von Gerhard Hoehme, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 2: Schriften zur Kunst, Stuttgart 1996, S.179–181 (Einleitung).